Ältere 
				Warendorfer werden sich an den „Langen Jammer“ erinnern, ein 
				langes Fachwerkhaus am Wilhelmsplatz, heute steht dort das 
				Theater am Wall. 
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				Am Rande der alten Festungsstadt Warendorf hinter Wall und 
				Graben war im Westen ein großes Freigelände, später 
				Wilhelmsplatz benannt. Dieser Platz war schon zu Garnisonzeiten 
				militärisches Übungsgelände. Ab etwa 1826 bis 1889 war es das 
				Reitgelände des Gestüts, wurde aber auch genutzt für 
				Viehauftrieb wie etwa zu Fettmarkt, für Märkte und für die 
				Kirmes.
				
				Am südlichen Rande dieser Fläche war hinter einer mannshohen 
				Bretterwand ein etwa 20 Meter langes, niedriges Wohnhaus mit 8 
				Türeingängen. Jede Wohneinheit hatte eine Tür und ein Fenster. 
				Unten war ein Wohnraum, oben gab es mehrere kleine Schlafräume. 
				Die Räume dieses langen Hauses waren sehr niedrig, der Fußboden 
				bestand aus gestampftem Lehm, das wussten wir.
				Wie es drinnen genau aussah, haben wir Kinder nie gesehen, denn 
				die Welt hinter der Bretterwand war für uns tabu. Wir kannten 
				wohl einige Kinder, die dort wohnten, sie waren aber nicht 
				unsere Spielkameraden. Das Haus hatte keine Dachrinne, das 
				Regenwasser floss einfach vom Dach herunter. Der etwa 2 m 
				breite, unbefestigte Weg zwischen Bretterwand und Haus 
				verwandelte sich bei Regen und im Winter in Matsche. Die 
				Wasserpumpe befand sich am Ende des Hauses Richtung 
				Wilhelmstrasse. Dahinter war für alle Bewohner des Gebäudes das 
				Klosett – natürlich ein Plumpsklo ohne Wasserspülung. 
				
				Dieses lange Fachwerkhaus war 1850 erbaut worden. 
				In dieser Zeit gab es in Warendorf über 10 % Arbeitslose. Die 
				Hausweber fanden für ihre Produkte keinen Absatz mehr. Die 
				Industrialisierung begann mit dem Bau der ersten Fabriken für 
				mechanische Weberei durch die Firma Brinkhaus an der 
				Kirchstrasse um 1862.
				
				Wahrscheinlich war dieser lange Jammer am Wilhelmsplatz eine 
				soziale Maßnahme. Die Bewohner waren ärmliche Leute, 
				Alleinstehende, Frauen mit Kindern, oft ohne Geld. Die Mieten 
				für diese Wohnungen waren sozial gestaffelt. Gezahlt wurde der 
				Lohn, den der Mieter in der 4ten Woche seiner Tätigkeit 
				verdiente. Bürgermeister Ewringmann (1904-1924) ließ diesen 
				Familien manchmal Geld zukommen, das der Stadt vom Goldschmied 
				Miele geschenkt wurde. Dieser aus Warendorf stammende Heinrich 
				Miele wohnte in Amsterdam, wo er durch Fleiß und gute Arbeit 
				reich geworden war. Er fühlte sich immer noch seiner Heimatstadt 
				sehr verbunden.
				
				
Auf 
				dem Platz vor der Bretterwand durften die Zigeuner  mit 
				ihren Wagen und Karren lagern. Wir fanden diese südländisch 
				aussehenden Familien in ihren bunten, aber zerlumpten Kleidern 
				höchst interessant, hatten aber auf Geheiß unserer Eltern immer 
				großen Abstand zu halten. 
				Neben dem Langen Jammer an der Wilhelmstraße stand ein großes 
				zweistöckiges Fachwerkhaus mit 3 Wohneinheiten. In diesem Haus 
				wohnte der Besitzer des Langen Jammers.
				
				1936 kaufte die Stadt beide Häuser und ließ sie abreißen.
				Erst 1950 wurden diese Grundstücke wieder bebaut mit dem Theater 
				am Wall.
				
				Über dem Dach des langen Jammers sieht man ein etwa vier 
				Stockwerk hohes Gebäude, heute ein Wohnhaus, vorher Mosterei. 
				Vor dem ersten Weltkrieg wurde vom Kaufmann Jülkenbeck dieses 
				Gebäude als Zichorienfabrik errichtet. Die Zichorie oder 
				Wegwarte ist ein hellblau blühendes Gewächs. Die Wurzeln der 
				Zichorie wurden getrocknet, gemahlen und geröstet als 
				Kaffeezusatz oder Ersatz gebraucht. Er war um die Zeit des 
				ersten Weltkrieges ein überall übliches kaffeefarbenes Getränk. 
				Wenn man sich etwas Gutes antun wollte oder es sich leisten 
				konnte, wurde der Zichorienkaffee mit dem Zusatz von ein paar 
				echten Kaffeebohnen aufgebessert. Im Volksmund hieß das Getränk 
				Mucke-Fuck oder Pettkuser.
				
				Ein zweiter „ Langer Jammer“ befand sich im Osten unserer Stadt 
				an der Friedhofsecke zur Pesthuiskesstrote, heute 
				Dr.-Leve-Straße, ein langes, flaches Fachwerkhaus. Hier wurde 
				früher eine Seilerei betrieben, wir nannten dieses Haus auch 
				Spinnbahn. 
								Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke 
								wurde 1912 in Warendorf geboren und wuchs in 
								einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern auf. 
								Im Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen 
								aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre 
								aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103 
								Jahren.
				Bild: Archiv der Altstadtfreunde Warendorf