Unser Garten – ein kleines Paradies
Eugenie Haunhorst erzählt aus ihrer Jugend in Warendorf vor 100 Jahren.

Es war schon immer so: Wenn die Schneeglöckchen und Krokusse blühen, dann zieht es den Gärtner in den Garten! Die Spuren des Winters müssen beseitigt werden.

Ja, früher hatten auch die Bewohner der Innenstadt einen Garten, der allerdings „vor den Toren der Stadt“ lag, also außerhalb der Altstadt. Die kleinen Gärten und Innenhöfe hinter den Wohnhäusern in der Innenstadt wurden als Spielfläche mit einem Sandkasten für die kleineren Kinder gebraucht und zum Aufhängen der Wäsche. Oft gab es dort auch noch einen kleinen Auslauf für die Hühner und einen Brunnen, neben dem eine Bank für eine Verschnaufpause stand. In diesen Innenhof gelangte man entweder durch das Haus oder durch die schmale Gasse, die zwischen den Häusern lag. Sie war gerade so breit, dass man mit dem Bollerwagen durchfahren konnte.

Das Gartenland außerhalb der Altstadt war meistens Pachtland, das im Besitz von Bürgerfamilien oder oft auch der Kirche war. Es war parzelliert und mit einem Geflecht von Wegen durchzogen, den Gartenstiegen.

unser Gartenhäuschen,
gemalt von unserem Bruder Otto Göcke
 
 

Auch wir hatten einen Garten, den unser Vater von der Kirche gepachtet hatte. Durch das Münstertor gingen wir über den Wilhelmsplatz und den Bahndamm (heute B 64) in die Gartenstiegen mit den über zwei Meter hohen Hecken. Diese Buchenhecken umgrenzten die Gärten. Ende Juni und zu Mariä-Himmelfahrt waren die Gartenbesitzer mit dem Schneiden der üppig gewachsenen Hecken beschäftigt. Das musste damals noch „mit der Hand“ gemacht werden, elektrische Heckenscheren gab es noch nicht. Das Unkraut unter der Hecke in der Gartenstiege wurde regelmäßig „weggeschuffelt“. Schon von außen sollte der Garten prick und sauber aussehen. Die Gartentore waren sehr einfach, sie bestanden aus einem großen Brett, das in einem robusten Balkengerüst aufgehängt war und mit einem Vorhängeschloss abgesperrt werden konnte.

Durch die Mitte unseres Gartens führte ein breiter Weg zur Laube, vorbei an einem bunten, mit Buchsbaum eingefassten Blumenbeet. Diese Laube hatte Vater aus Holz vom Schreiner erbauen lassen. Unser Bruder Otto hat sie in einem Bild verewigt. Die Gartenlaube war der Ruheplatz für unsere Eltern. Im hinteren Teil befand sich ein Verschlag für die Gartengeräte.

Vater führte ein Heft mit dem Titel „Garten“, in dem auf der ersten Seite der Namen des Gartenbesitzers stand mit dem Pachtpreis und wann bezahlt werden musste. Auf den folgenden Seiten wurden die Fruchtfolge und der Pflanzplan des jeweiligen Jahres beschrieben.

Spätestens mit dem Namensfest der hl. Gertrud am 17. März begann die Gartenarbeit. Eine alte Bauernweisheit sagt: „Gertrud driv de Fulen rut!“ (Gertrud treibt die Faulen raus!) Im frühen Frühjahr war schon kräftig gedüngt worden. Der wichtigste Dünger war die Jauche. An diesen „natürlichen Dünger“ konnte man leicht kommen, denn die meisten Toiletten waren nicht an die öffentliche Kanalisation angeschlossen, sondern hatten ihre eigene Aalgrube. Die musste regelmäßig geleert werden.

Holzken Stielfass Zum "Jauchzen"

Wir wohnten in der Münsterwallschule und ich erinnere mich an den Gestank auf dem Schulhof, wenn unsere Aalgrube geleert wurde. Der Deckel der Aalgrube wurde dann abgehoben und mit dem Stielfass, so nannte man den eimerartigen Schöpflöffel mit dem langen Stiel, rührte man im Jauchekump. Dann wurde die Jauche Stielfass für Stielfass herausgehoben und durch einen großen Trichter in das Aaltönnchen gefüllt, das genau auf unseren Bollerwagen passte. War unser Aalfässchen bis oben voll, wurde es gut verschlossen und wir mussten es mit dem Bollenwagen zum Garten bringen. Das taten wir gar nicht gerne, aber danach wurden wir nicht gefragt. Im Garten wurde die Jauche dann mit dem Stielfass auf dem Acker verteilt und konnte in den Boden einsickern. Das stank zwar zuerst, aber der Boden brauchte Dünger - Kunstdünger gab es damals noch nicht.

Unser Garten war durch die beiden Hauptwege in vier Quadrate aufgeteilt. Die sollten nun „rigolt“, d.h. tief umgegraben werden. Die Mädchen verrichteten die leichtere Arbeit: mit einer Schaufel hoben wir die obere Schicht Erde mit dem verfilzten Unkraut ab und warfen die Scholle umgekehrt in die ausgeschaufelte Rinne. Unser Bruder Otto musste dann mit dem Spaten senkrecht graben und die Rinne mit Erde füllen. Manchmal besorgte Vater für diese schweren Arbeiten eine Hilfskraft. War das Umgraben getan, wurde die Fläche glatt geharkt und in Beete eingeteilt. Mit Holzschuhen wurden schmale Wege, die Pättkes, getreten, nachdem an beiden Seiten eine Pattleine gespannt worden war, damit der Weg akkurat gerade wurde.

Zuerst kamen die dicken Bohnen in die Erde. Sie konnten Kälte und etwas Frost vertragen. Eine große Fläche wurde mit Pflanzkartoffeln belegt. Nach und nach wurden die Pläne des Gartenheftes umgesetzt. Nachdem die Eisheiligen überwunden waren - am 12. Mai der hl. Pankratius, dann der hl. Servatius und Bonifatius und am 15. die kalte Sophie - konnte alles gepflanzt oder gesät werden. Für die Kohlsorten kaufte Mutter in einer Gärtnerei kleine Pflanzen. Das war praktisch und auch nicht sehr teuer.

Der Kampf gegen das Unkraut gehörte ganzjährig zu den Gartenmühen; nur ein   gepflegtes und unkrautfreies  Gemüsebeet versprach reiche Ernte. Mutter trug bei der Gartenarbeit immer ihren Sonnenschutz, denn damals war es vornehm, eine blasse Gesichtsfarbe zu haben.

Auch die Wege und Pättkes wurden regelmäßig mit dem „Schüffelken“ von Unkräutern befreit. Samstags wurden sie fein säuberlich geharkt. Mit großem Stolz betraten unsere Eltern dann sonntags nach der Kirche den gepflegten Garten und freuten sich, wenn auch der Nachbar einen Blick über den Zaun warf.

Jeden Tag ging unser Vater zum Garten und sah nach dem Rechten. Alle Gartenmühe wurde belohnt, wenn er den ersten Salat und einen Korb voll dicker Bohnen und einem schönen Blumenstrauß mit nach Hause brachte. Nach dem langen Winter war frisches Gemüse eine Köstlichkeit. Gekauftes Gemüse gab es damals so gut wie gar nicht.

Wenn die Wallfahrtsprozession nach Telgte ging, also Anfang Juli, gab es erstmals frische Erbsen und Wurzeln aus dem eigenen Garten, dazu ein gebratenes Hähnchen. Welch ein Hochgenuss! Unsere Mutter machte eine gute Suppe dazu und zum Nachtisch gab es Stippmilch mit frischen Erdbeeren - ein echtes Festessen. Über den gesundheitlichen Wert von Obst und Gemüse wurde gar nicht gesprochen, das war selbstverständlich. Unsere Mutter war sehr darauf bedacht, jeden Tag frisches Gemüse und Salat auf den Tisch zu bringen. Bei seinem nachmittäglichen Gang in den Garten bekam Vater die Order: „Bring bitte einen Bund Wurzeln und Kartoffeln mit und guck mal, ob wieder ein paar Erdbeeren und Himbeeren reif sind!“ Und Vater brachte es am Abend heim.

 

 

Oft fuhr Mutter mit dem Rad zum Garten. Mit einem Blick sah sie, was für die nächsten Mahlzeiten geeignet war. Der Garten war ein Gesundbrunnen für die ganze Familie. Selbstverständlich kamen alle Kräuter täglich frisch aus dem Garten. In Haunhorsts Garten, unserem Nachbargarten, gab es sogar ein Spargelbeet. Jeden Morgen und jeden Abend wurden die Spargelstangen, die ihr weißes Köpfchen aus der Erde steckten, mit dem langen Spargelmesser gestochen und in ein Rhabarberblatt gewickelt, das dann in ein tiefes Erdloch gelegt wurde. Wieder mit Erde bedeckt blieb der Spargel frisch, bis sich genug für eine Mahlzeit angesammelt hatte. Manchmal reichte der Nachbar ein Spargelbündel über den Zaun, dann gab es auch bei uns sonntags Spargel.

Im Frühjahr erfreute uns die Pracht der blühenden Bäume. Der Pfirsichbaum wechselte mit dem Pflaumenbaum, rosa und weiß, später blühte der rosa-weiße Apfelbaum. Unser aller Lieblingsapfel war der Grafensteiner. Meine Schwester Hildegard und später mein Neffe Peter hatten Ende August Geburtstag. Sie durften die ersten Grafensteiner ernten und voll Genuss in den saftigen Apfel beißen.

Aufmerksam beobachtete Vater, ob die Beerensträucher ordentlich Früchte ansetzten. Das war wichtig für den Wintervorrat. Wir Kinder halfen fleißig beim Ernten der Erdbeeren, Himbeeren, Stachelbeeren und Johannisbeeren. Mutter war eigentlichen den ganzen Sommer über mit dem Einkochen beschäftigt. War die Erdbeer-Rhabarber-Marmelade fertig, kam die Vierfrucht-Marmelade aus Stachelbeeren und roten und schwarzen Johannisbeeren und Himbeeren an die Reihe.  Viele Einmach- und Marmeladengläser standen in unserem Keller in Reih und Glied und wir freuten uns schon auf die leckere Stachelbeertorte im Winter. Der Saft aus Holunderbeeren war unser Wintervorrat an Vitaminen.

Im Herbst fuhren wir mit dem Bollerwagen die Apfelernte nach Hause. Die guten Äpfel packten wir in die Apfelregale im Keller und die beschädigten wurden zu Apfelkompott eingeweckt. Köstlich roch es in der Küche, wenn Mutter Apfelringe und Pflaumen im Backofen trocknete.

Möhren, Rüben, Rotkohl und Weißkohl wurden in einer „Miete“ frisch gehalten, einer sehr alten und bewährten Vorratshaltung. In der Laube im kleinen Garten am Schulhof hob unser Vater im Herbst eine kleine Grube aus und legte sie mit Stroh aus. Das Gemüse wurde ordentlich darin gestapelt und dann mit Stroh abgedeckt. So lagerte es frostsicher und Mutter konnte sich jederzeit das gewünschte Gemüse für das Mittagessen aus der Miete holen.

Zu jeder Mittagsmahlzeit gab es in unserer siebenköpfigen Familie Kartoffeln. Wir deckten uns zu Fettmarkt mit etwa 20 Zentnern Kartoffeln ein. Dazu kamen zwei Zentner kleine, fest kochende Sonntagskartöffelchen, die uns der Bauer Fressmann vom Sassenberger Landweg brachte. In unserem kühlen Keller, der gut belüftet war, lagerten sie in großen Kartoffelkisten. Der Vorrat reichte bis Ende Juni, dann gab es die Frühkartoffeln aus dem Garten.

Die Wasserversorgung im Garten wurde früher dem Himmel überlassen. Für sehr trockene Tage gab es an der Gartenlaube eine kleine Tonne, die vom Regenwasser des Laubendaches gefüllt wurde.

Der Erfolg der liebevollen Pflege des Gartens blieb nicht aus. Viele Körbe voll mit Gemüse und Obst sorgten für die ausgewogene und gesunde Ernährung der Familie. Der wirtschaftliche Vorteil wurde nie errechnet, von der schweren Arbeit bei oft sengender Hitze, den Rückenschmerzen und den schwarzen Händen wurde nie gesprochen. Gartenarbeit gehörte zum normalen Alltag und hat uns trotz aller Mühen immer mit Freude und Zufriedenheit erfüllt.

 

Die Autorin Eugenie Haunhorst geb. Göcke

wurde 1912 in Warendorf geboren und wuchs in einer Lehrerfamilie mit vier Geschwistern in der Münsterwallschule auf. Im Alter von 90 Jahren begann sie, Erinnerungen aus ihrem Leben im Warendorf der 1920er Jahre aufzuschreiben. Sie starb 2016 im Alter von 103 Jahren.

 

 

Bilder: Archiv Wolff

 

 

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